ie Stadt Berlin verdankt einen Großteil seiner Existenz den Hugenotten, einer religiösen Gruppe französischer Protestanten. Um das Jahr 1680 wanderten etwa 50.000 von ihnen nach Preußen aus und hinterließen bis heute sichtbare architektonische Spuren in der Region Berlin-Brandenburg. Runde 200 Jahre später kehrten einige Nachfahren dieser französischen Hugenotten möglicherweise kurzzeitig zu ihren Wurzeln zurück, um sich an der brutalen Niederschlagung einer der ersten erfolgreichen politischen Volksaufstände zu beteiligen - genau 878,08 km entfernt, in der französischen Hauptstadt Paris.
Im Jahr 1870 war das zweite französische Kaiserreich zusammengebrochen. Sozialistische Bewegungen, die in den vorangegangenen rund 40 Jahren immer mehr an Macht gewannen, forderten eine wesentlich demokratischere Republik in Frankreich. Die Geschichtsschreibung erzählt, dass während der so genannten "Belagerung von Paris" deutsche und preußische Truppen Teile Frankreichs besetzten und die Stadt Paris in einem vermeintlich rein militärischen Konflikt umzingelten. Es gibt jedoch Grund zu der Annahme, dass extreme konservative Kräfte und Fanatiker des alten französischen Kaiserreichs den deutschen Kaiser eher gebeten hatten, dessen Armee in ihr eigenes Land einmarschieren zu lassen. Möglichlicher Weise, um die vielen alten monarchischen Bindungen zu retten, die zwischen Frankreich und dem übrigen Europa inmitten all der sozialistischen Machtergreifung noch bestanden. Was zuvor im Jahr 1848 geschah, als sich eine Reihe republikanischer Aufstände gegen europäische Monarchien von Sizilien nach Frankreich und Deutschland ausgebreitet hatte, sollte in 1871 um jeden Preis verhindert werden.
Als die deutsche Armee Anfang 1871 in die Nähe der französischen Hauptstadt gelang, begann sie ab dem 5. Januar mit schweren Bombardierungen. Man hätte erwartet, dass Paris eingenommen werden würde, als die deutsche Armee die Nähe der franzöischen Hauptstadt erreichte. Stattdessen kam es am 26. Januar 1871 zu einem seltsamen Friedensschluss: die halb-kaiserlich-französische Militärführung in Bordeaux - nicht in Paris oder Berlin - intervenierte und entschied sozusagen für sich selbst, dass der Krieg um Frankreich und Paris jetzt beendet werden müsse. Komischer Weise erklärten sich die Deutschen tatsächlich bereit, die französische Hauptstadt auf einmal nicht einzunehmen. Der französische Staatsmann und Jurist Jules Favre ging sogar so weit, den deutschen Kaiser Bismarck dazu zu überreden, die Nationalgarde in Paris und andernorts nicht zu entwaffnen. Bemerkenswerterweise erklärte Bismarck Ende Januar 1871 dann auch sehr verdächtig diplomatisch, dass das französische Militär voll bewaffnet und intakt bleiben müsse,
"um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten" so der deutsche Kaiser damals offiziell.
Der Grund für dieses seltsame, plötzliche Friedensabkommen zwischen der einmarschierenden deutschen Armee einerseits und den invasionsbefehlenden Franzosen andererseits wurde zur gleichen Zeit in Paris offenbar - mit weitreichenden Folgen bis zum heutigen Tag. Das zweite französische Kaiserreich war nicht gerade dafür bekannt, dessen Volk zu lieben. Die Lebenserwartung war niedrig, einfache Menschen wurden wieder einmal von einer eher arroganten und ignoranten Elite beherrscht - genau das, was 100 Jahre zuvor in 1789 während der französischen Revolution radikal zu ändern versucht wurde. Die deutsche Invasion und die Isolierung von Paris während des extrem kalten Winters 1870/71 machten die Dinge zudem wesentlich schlimmer. Die Menschen hungerten, Anfang 1871 gehörten Ratten für viele Pariser Bürger zum täglichen Speiseplan.
Als am 15. Juli [1870] vom Corps Législatif endlich offiziell der Krieg [zwischen Frankreich und Deutschland] verkündet wurde, weigerte sich die gesamte [französische] Opposition, für die vorläufigen Subventionen zu stimmen - selbst Thiers brandmarkte diese als "verabscheuungswürdig"; alle unabhängigen Pariser Zeitungen verurteilten sie, und die Provinzpresse schloss sich erstaunlicherweise fast einstimmig an.
Erklärung des Generalrats der Internationalen Vereinigung der Werktätigen, Karl Marx, Juni 1871
Kurz vor dem Friedensvertrag mit den deutschen "Invasoren" vom 26. Januar 1871 versammelte sich eine erste Gruppe von etwa 400 Nationalgardisten am 22. Januar 1871 um die Mittagszeit vor dem Hotel de Ville. Sie forderten die Unterstellung des gesamten Militärs unter zivile Kontrolle, sowie die sofortige Wahl einer sogenannten "Kommune" als Antwort auf die katastrophale Situation in Paris. Am späten Nachmittag brach eine Schießerei aus, bei der mehrere dieser ersten Kommune-isten erschossen wurden. Das reguläre Militär schloss zwei Verlagshäuser und verhaftete mehr als 80 Revolutionäre.
Wochen später entbrannte ein Kampf um 400 veraltete Kanonen, die zuvor von der Pariser Bevölkerung für den Einsatz gegen die Deutschen finanziert worden waren. Die Revolutionäre beschlossen, diese Kanonen in den Parks der Arbeiterviertel aufzustellen. Die Idee war, sich nun gegen die eigene französische Regierung verteidigen zu können, da der Krieg mit den Deutschen ja offiziell beendet war. Die Situation spitzte sich am 18. März 1871 zu, als es einer Gruppe kommune-istischer Soldaten gelang, einige Kanonen in Montmarte zu erbeuten. Die wachsende Menge der Revolutionäre marschierte zum Hotel de Ville und zwang die reguläre Armee sowie dessen Führung, mit 40.000 Mann nach Schloss Versailles zu evakuieren, wo man sich für die nächsten Monate verbarrikadierte.
Zu dieser Zeit war Bordeaux das Zentrum der französischen Regierung, nicht mehr Paris. Auch in Bordeaux waren die Dinge für die ofiziellen Beamten der Regierung kritisch. Einer der größten Plätze Europas, der Place de la Quiconces, zeugt noch heute davon. Der Platz im Stadtzentrum Bordeauxs war einst der Standort des Cheateau de la Trompette. Um 1820 beschloss man, die Kanonen des Platzes nach innen und nicht nach außen zu richten, dies um Rebellionen zu verhindern. Während Bordeaux also zum Zentrum der nationalen Regierung wurde, entwickelte sich Paris zu einer Gegenmacht mit der Gründung der eigenen Nationalgarde, die nun die Kontrolle über die Stadt übernahm nachdem das reguläre Militär geflohen war. Ihr Zentralkomitee erklärte am 22. März 1871, dass sie - und nicht der Bürgermeister - die legitime Regierung von Paris sei. Bald darauf wurden Wahlen abgehalten, am 26. März 1871 nahm die neu gewählte "Pariser Kommune" ihre Arbeit mit großem Enthusiasmus auf.
Die Kommunisten erließen sofort einen ihrer ersten Dekrete, in welchem man das erste Mal überhaupt rechtlich verankert die Trennung von Kirche und Staat erklärte. Mehrere Priester wurden verhaftet, Kirchen wurden geschlossen oder umgewandelt, der Pariser Erzbischof wurde später als Vergeltung für ähnliche Exekutionen der Versailler Gegenseite hingerichtet. Kinderarbeit wurde vollständig abgeschafft, ebenso die Nachtarbeit in Bäckereien. Die Kommunarden weigerten sich, zwischen Kindern, die innerhalb oder außerhalb einer Ehe geboren wurden zu unterscheiden. Das Recht aller Kinder auf eine angemessene Schulbildung wurde ebenso diskutiert, wie eine medizinische Versorgung für alle. Renten für unverheiratete Nationalgardisten und die Kinder von Gefallenen wurden ebenso beschlossen wie die Konfiszierung von Unternehmen, die von ihren Besitzern aufgegeben wurden. Die Liste der Gesetze, die zum Wohle der Bürger erlassen wurden, wurde immer länger, so dass die flüchtige Armee und ihre Führung in Versailles bald um Hilfe riefen. Nicht unbedingt bei den eigenen Landsleuten, sondern außerhalb: beim deutschen Kaiser. Die Preußen zögerten nicht lange und befahlen ihren Armeen, sich erneut zum Kampf zu rüsten. Unter der Führung von MacMahon, einem gebürtigen Iren, zog die ge- und verstärkte französische Armee im Frühjahr 1871 langsam wieder in Paris ein.
Ende Mai 1871 kam es zur letzten Schlacht zwischen den Kommunarden und der französischen Armee, die als Blutige Woche bekannt wurde und zehntausende von Toten forderte. Die Kommunarden, zahlenmäßig eins zu fünf unterlegen, brannten zur Vergeltung mehrere Pariser Paläste und Denkmäler nieder. Im Oktober 1871 war die Pariser Kommune zerschlagen, ihre Mitglieder und Anhänger wurden hingerichtet, inhaftiert oder in abgelegene Kolonien wie Neukaledonien verbannt.
Einige Jahre vor und nach den Ereignissen der Pariser Kommune hatten zwei der berühmtesten Söhne Deutschlands, Karl Marx und Friedrich Engels, ihr berühmtes Buches "Das Kapital" in drei Teilen veröffentlicht: den ersten von Marx selbst 1865, den zweiten von Friedrich Engels zwei Jahre nach Marx' Tod in 1883, den dritten 1894. Marx selbst unterstützte natürlich die Pariser Kommune, auch indem er Unterstützung durch seine "Internationale Vereinigung der Werktätigen" (IWMA) von London aus koordinierte und sich mit den Pariser Kommunarden identifizierte.
Da die Vorbedingung für die Verwirklichung ihres Vertrags die Unterwerfung von Paris war, baten sie Bismarck, die Auszahlung der ersten Rate bis nach der Besetzung von Paris aufzuschieben. Bismarck hat diese Bedingung akzeptiert. Preußen, das selbst dringend auf dieses Geld angewiesen ist, wird daher der Versailler Regierung jede mögliche Erleichterung gewähren, um die Besetzung von Paris zu beschleunigen. Gebt also Acht !
Karl Marx in einem Brief an die Pariser Kommunarden
vom 13. Mai 1871
Da der preußische Staat dafür sorgte, dass Karl Marx verfolgt wurde, wohin er auch ging, nachdem seine monarchiekritischen Artikel zu Beginn seiner Karriere in Berlin veröffentlicht wurden, war eine direkte persönliche Unterstützung der Pariser Kommunarden für Marx wahrscheinlich zu riskant. Er verließ Deutschland bereits lange vorher in 1843 und emigrierte zunächst nach Paris, dann nach Brüssel und schließlich nach London, wo er und seine Familie in den Slums von Soho in so großer Armut lebten, dass Marx einen seiner Söhne verlor, der in sehr jungem Alter starb. Erst später begann Friedrich Engels, Karl Marx regelmäßig zu unterstützen und ihm ein geregeltes Einkommen zu verschaffen.
Kurz nach 1871 schrieb Karl Marx ein Buch über die Pariser Kommune mit dem Titel
"Der Bürgerkrieg in Frankreich". Lenin hat dieses Buch später eingehend studiert, wahrscheinlich ohne zu wissen, dass Marx sich schon früh von den verschiedenen politischen Interpretationen seines Buches Das Kapital von 1865 distanziert hatte, indem er einmal erklärte: "Ich heiße zwar Karl Marx, aber ich bin kein Marxist". Wahrscheinlich wusste Lenin auch nicht, dass Karl Marx mindestens einmal
Geld als Daytrader verdiente.
Fast so wie die Hugenotten in Berlin, die den Preußen gesagt haben könnten: Wir sind zwar aus Paris, aber wir sind keine Franzosen.